Die Jahre 2010 bis 2013 brachten für viele Menschen mit Beeinträchtigung, aber auch für Lehrende und Studierende an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund viele Neuerungen in Sachen Musik und Inklusion. Dank der Unterstützung durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW konnte das Projekt Dortmunder Modell: Musik durchgeführt werden. Es hatte sich nicht nur zur Aufgabe gemacht, in den Dortmunder Werkstätten für behinderte Menschen musikalisch interessierten und begabten Werkstattbeschäftigten musikalische Bildung zu vermitteln, es hatte sich das übergeordnete Ziel gesetzt, inklusive und professionell arbeitende Ensembles aufzubauen und das regionale und überregionale Musikleben um diese Ensembles zu erweitern. Zudem sollten Studierende der Rehabilitationswissenschaften die Möglichkeit haben, in Seminaren und in einem inklusiven Chor Erfahrungen in der musikalischen Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu sammeln.
Der Film domo vision zeigt Entwicklung und Ergebnisse des Dortmunder Modell: Musik, kurz DOMO. Er findet sich auf Youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=BIqReCpsR-w
Im Verlauf von DOMO fanden verschiedene Konzerte an besonderen Orten statt. Eines im Borusseum in Dortmund. Das Thema: Spitzenspiel. Station 17 trifft DOMO. Einen Konzertausschnitt finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=c3n5_tuBKnQ . Ein anderes im Rahmen der Ausstellung musik inklusiv, die von 06. September bis 07. Oktober 2012 im Dortmunder U stattfand. Einen Ausschnitt des Auftritts des Ensembles NIA - extended version mit dem Stück misery finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=WVVHJEUfXD8
Projektleitung und Chor "stimmig": Univ.-Prof. Dr. Irmgard Merkt
Konzeptentwicklung, Arrangements, musikalisch-künstlerische Leitung: Claudia Schmidt
Konzeptentwicklung, Organisation, künstlerische Leitung Bühnenprojekte: Lis Marie Diehl
Dortmund 2014
2009 hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. In § 30, Abs. 2 heißt es: “Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potential zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“ Anlass, immer wieder darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit unterschiedlichen Lebens- und Lernvoraussetzungen haben, ihr musikalisches Potential zu entfalten und in das Kulturleben einzubringen.
Anlass, immer wieder nach Wegen für die persönliche Entfaltung und Kultureller Bildung ALLER Mitglieder der Gesellschaft zu suchen und ein inklusives Kulturleben zu gestalten.
Im Frühjahr 2010 beginnt an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund das Projekt Dortmunder Modell: Musik – initiiert von Univ.-Prof. Dr. Irmgard Merkt.
Das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen hat für die kommenden drei Jahren die Finanzierung von DOMO: Musik, so die gängige Abkürzung, zugesagt. Projektmitarbeiterinnen sind Claudia Schmidt und Lis Marie Diehl sowie studentische Hilfskräfte und ein Team aus Instrumentallehrer_innen und Musiker_innen.
DOMO: Musik ist ein Projekt musikalisch-kultureller Erwachsenenbildung und Kulturarbeit. In den Bereichen Breitenbildung, Talentförderung und Professionalisierung wird ausgelotet, wie inklusive musikalische Bildung und ein inklusives Kulturleben gelingen können.
Die Aspekte Persönlichkeitsbildung, Teilhabe und Mitwirkung am kulturellen Leben, Arbeit an der künstlerischen Qualität inklusiver Ensembles und Bewusstseinsbildung der Gesellschaft durch öffentliche Präsenz von Menschen mit Behinderung stehen im Projekt DOMO: Musik gleichberechtigt nebeneinander.
Die drei Projektjahre 2010–2013 korrespondieren mit den drei Projektebenen Breitenbildung, Talentförderung und Professionalisierung. Diese drei Ebenen werden allerdings nicht rein chronologisch und aufeinander aufbauend verstanden: von Seiten der Planung ist immer Raum, auf unterschiedliche Entwicklungstempi der Projektteilnehmenden zu reagieren.
Die Ebene der Breitenbildung hat musikalisch-inhaltlich und auch organisatorisch zwei Angebotsbereiche: Instrumentaler Anfangsunterricht und Chor. Der Anfangsunterricht im Instrument der Wahl wird drei Monate lang in Form von Gruppenunterricht innerhalb der Werkstatt erteilt. In diesen drei Monaten soll den Einzelnen eine fundierte Entscheidung für einen längerfristigen Instrumentalunterricht ermöglicht werden. Parallel werden in den Werkstätten Ensembles eingerichtet, die vor Ort ein niedrigschwelliges Angebot machen, um das Musizieren in der Gruppe auszuprobieren.
Das zweite Angebot der Ebene Breitenbildung ist auf die gesamte Projektdauer angelegt. Es beinhaltet einen inklusiven Chor, der bewusst außerhalb der Werkstätten an der TU Dortmund angeboten wird. Für die Werkstattbeschäftigten ist er gedacht als voraussetzungsloses Freizeitangebot – es gibt keine Aufnahmebedingung, kein Probesingen. Dies gilt ebenso für Studierende der TU Dortmund und andere Interessierte. Der Chor mit dem Namen „stimmig” ist ein Freizeit-, Bildungs- und ein Erfahrungsangebot für alle Beteiligten.
Die Werkstattbeschäftigten, die im Anschluss an das “Musikalische Interview” und die Informationsphase ein Instrument lernen, erhalten einmal wöchentlich Instrumentalunterricht. Zusätzlich zu den musikalischen Grundfertigkeiten zählt auch persönliches Engagement, das sich u.a. in der regelmäßigen Teilnahme am Unterricht zeigt. Mit dem Einzel- oder Kleingruppenunterricht ist sehr bald die Teilnahme an Ensembles verbunden, die gemeinsam mit professionellen Musiker_innen eingerichtet werden. Zusätzliche Wochenendworkshops vermitteln musikalische Kompetenzen über das Instrumentalspiel hinaus.
Aufbauend auf der musikalischen Weiterentwicklung von Werkstattbeschäftigten im Instrumentalspiel und/oder im Gesang und der Einrichtung von inklusiven Ensembles wird eine zusätzliche Qualifizierung angestrebt: Musikalische Präsenz, Bühnenpräsenz, Zusammenspiel, Konzentration und Ausdauer sind unerlässliche Voraussetzungen für weitere Professionalisierung. In kleinen Vorspielen und Konzerten werden die notwendigen Kompetenzen geübt und erworben. Ziel ist die Etablierung von stabilen Ensembles, die in zunehmendem Maße Teil des öffentlichen Kulturlebens werden und aus der Nische der „Behindertenkultur” heraustreten. Das öffentliche Kulturprogramm wird um Ensembles bereichert, in denen Menschen mit Behinderung selbstverständliche und qualifizierte Ensembleteilnehmer sind.
DOMO: Musik wird auf drei Ebenen wirksam. Eine erste Ebene ist die der Persönlichkeitsentwicklung im Kontext von Erwachsenenbildung: Menschen mit Behinderung entfalten ihr kreatives Potential mit der Chance, sich in Freizeit und auch in Teilaspekten ihres beruflichen Lebens musikalisch zu betätigen und dies als sinnstiftend zu erleben. Die zweite Ebene von DOMO: Musik richtet den Blick auf die professionellen Musiker_innen. Im Unterricht und im Ensemblespiel mit Menschen mit Behinderung machen auch sie neue Erfahrungen. Sie entwickeln pädagogische und künstlerische Ideen, die sich wiederum in andere Unterrichtskontexte übertragen lassen. DOMO: Musik trägt auch auf dieser Ebene zurNormalisierung des Umgangs miteinander bei. Die dritte Ebene bezieht sich auf den in der UN-BRK genannten Aspekt der “Bereicherung der Gesellschaft”: Inklusive Musikensembles lassen ein neues Bild von Menschen mit Behinderung entstehen. Öffentlich sichtbar wird ein selbstverständlicher und unaufgeregter, gleichzeitig aber auch musikalisch fordernder Umgang von Menschen unterschiedlicher Voraussetzungen.
Nicht alle Menschen können und wollen auf dieselbe Weise mit Musik umgehen. Aufgabe von DOMO: Musik war es, Werkstattbeschäftigte zu finden, die ihrem Leben einen neuen musikalischen Akzent geben können und wollen, Menschen also, die ein Instrument erlernen und in Ensembles spielen wollen – oder Menschen, die einfach “nur” gern singen wollen. Anstelle eines Castings im Sinne einer Aufnahmeprüfung wurde das “Musikalische Interview” als neues Instrument entwickelt, mit dessen Hilfe musikalisch interessierte und talentierte Menschen in den WfbM entdeckt werden konnten. Im Rahmen der Interview-Phase wurden alle Arbeitsgruppen in den drei WfbM während der Arbeitszeit besucht, um allen interessierten Beschäftigten die Gelegenheit zur Teilnahme am Interview zu geben. Meist waren ca. 10 Personen pro Gruppe an einem erstem musikpraktischen Teil beteiligt: dieser besteht zum Einen aus der Imitation vorgegebener Rhythmen durch Klatschen auf den Tisch sowie einem „Call & Response“- Teil, in dem es um das Nachsingen von Melodiephrasen sowie das Erfinden und Nachahmen von Bewegungen zur Musik geht. Teilweise wurde auf Wunsch auch Einzeln vorgesungen.
Im zweiten biographischen Teil des Interviews werden in Einzelgesprächen u. a. Fragen nach musikalischen Vorerfahrungen, nach dem Besitz und dem Spiel von Instrumenten sowie nach musikalischen Vorlieben gestellt. Die Antworten werden schriftlich festgehalten und später ausgewertet. Das Musikalische Interview wurde von den Werkstätten selbst als wichtiges Instrument gesehen. Es hat den Blick auf Menschen gelenkt, deren Musikalität vorher noch nicht sichtbar geworden war.
In einem Zeitraum von 5 Monaten werden 679 Interviews geführt, 220 Werkstattbeschäftigte erhalten probehalber Gruppenunterricht im Rahmen einer dreimonatigen Erprobungsphase. 80 von ihnen zeigen weiterführendes Interesse am Erlernen eines Instruments, 28 kommen mehrere Semester lang regelmäßig zum Chor.
Zentrale Partner für DOMO: Musik waren die drei Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Dortmund. Sie bieten Arbeitsplätze für etwa 1.300 Menschen mit Behinderung:
Werkstatt über den Teichen
Werkstätten Gottessegen
Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt Dortmund
Die Max-Wittmann-Schule in unmittelbarer Nachbarschaft der Werkstatt über den Teichen stellt als Kooperationspartner Räume für den Instrumentalunterricht zur Verfügung.
Die Musikschule Dortmund wird im Projektverlauf ebenfalls zum Partner. Sie macht Unterrichtsangebote für diejenigen DOMOMusikerinnen, die als Ergebnis der Talentförderung einen dauerhaften Musikunterricht in Anspruch nehmen wollen.
Ein Projekt wie DOMO: Musik bringt zusätzliche Arbeit in jede kooperierende Institution, in jede Werkstatt: Informationsbesuche der Projektmitarbeiterinnen, Terminabsprachen, Teamgespräche, Musikalische Interviews mit den Werkstattbeschäftigten während der Arbeitszeit, Organisation von Fahrten, Anfragen bei Betreuer_innen und Gruppenleiter_innen und dergleichen mehr. Alle drei Dortmunder Werkstätten sind offene und engagierte Kooperationspartner.
Geschäftsführung, Betriebsleitung und die sozialen Dienste der drei Dortmunder Werkstätten haben DOMO: Musik jederzeit unterstützt. Das deutliche Interesse an der musikalischen Aus- und Weiterbildung der Werkstattbeschäftigten zeigte sich durch das Schaffen von Auftrittsmöglichkeiten für die neugegründeten Ensembles innerhalb der Institutionen und an der Präsenz der jeweiligen Leitungen bei den Auftritten im Dortmunder Kulturleben.
Die Weiterführung der werkstattinternen Ensembles auch über den Projektzeitraum hinaus ist ein Signal dafür, wie bedeutsam die aktive musikalische Tätigkeit für die Werkstattbeschäftigten gesehen wird.
Im inklusiv angelegten Chor „stimmig“ sind alle willkommen, die gerne singen. Wer kommt, singt mit. Es kommen Menschen mit Behinderung aus den drei Dortmunder Werkstätten, manchmal mit Müttern, Freunden und Verwandten, es kommen Studierende der Fakultät Rehabilitationswissenschaften und Studierende mit Behinderung aus verschiedenen Fakultäten der TU Dortmund, es kommen Studierende der Seniorenstudiengänge, internationale Studierende aus Indien und Ecuador und manchmal auch Mitglieder des Behindertennetzwerkes Dortmund.
Die Folge: Chorerfahrene stehen neben Neulingen, die Einigung auf eine Tonhöhe gelingt nicht immer. Ein solch heterogener Chor verlangt auch ein heterogenes Chorverständnis; die Orientierung an einem traditionellen Chorklang wäre eine starke musikalische Einschränkung.
Methodische Prinzipien sind die spielerische Gehörbildung im Rollenspiel und in Bewegung, Rhythmiktraining mit Bodypercussion, Konzentrationstraining mit Überraschungsmomenten, grundsätzliches Singen ohne Noten, dafür mit Bewegung. Musikalisch-inhaltlich folgt der Chor einer Idee von kultureller Bildung: Alle lernen Musik jenseits des medialen Mainstream kennen. Lieder und Tänze aus anderen Zeiten und Kulturen, neue und alte Musik. Jedes Semester folgt einer inhaltlichen Thematik. Die musikalischen Elemente werden zu einer Gesamt-Erzählung zusammengefügt, die mit Einsatz von Sprechstimme und Gesang, Improvisation und Reproduktion, Bodypercussion, szenischen Elementen und dem Einsatz von Klein- und Effektinstrumenten schließlich öffentlich aufgeführt wird.
Insgesamt zwölf solcher Erzählungen sind bislang entstanden mit Themen wie „Maschinenmusik“ oder „Bilder einer Ausstellung“. Der Chor ist an verschiedenen Orten aufgetreten: Im Museum Ostwall im Dortmunder U, in der Fußgängerzone, zuletzt im Rahmen der Großveranstaltung „just in time, just in sequence“ im Bochumer Schauspielhaus. Im Rahmen der chor.com. 2015 wird das Konzept der Fachöffentlichkeit vorgestellt.
80 Werkstattbeschäftigte entscheiden sich im Laufe der Erprobungsphase für weiterführenden Instrumentalunterricht. In dieser zweiten Phase von DOMO: Musik werden neben Gesang folgende Instrumente unterrichtet: Violine, Klavier, Keyboard, Saxophon, Querflöte, Congas, Schlagzeug, Bass, E-Gitarre, Konzertgitarre, Klarinette, Trompete und Tenorhorn. Die Instrumente werden teils ausgeliehen, teils sind sie in Besitz der Schüler_ innen.
Die Unterrichtsdauer orientiert sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Schüler_ innen. Für einige reicht die vorgesehene halbe Stunde, andere brauchen 45 Minuten oder die volle Stunde. Die Instrumentallehrerinnen und -lehrer sind inhaltlich und methodisch flexibel und auf ihre neuen Schüler_innen eingestellt. Sie unterrichten z. T. mehrere Instrumente und wechseln nach Bedarf und musikalischer Situation das Instrument und auch von der Melodie zur Begleitung.
Eines der Ziele von DOMO war die Verselbständigung der Projektinhalte und die dauerhafte Verortung in bereits bestehenden Strukturen und Institutionen. Daher wurde eine Zusammenarbeit mit der Städtischen Musikschule Dortmund mit dem Ziel aufgebaut, die persönliche musikalische Entwicklung als Schüler_in der Musikschule langfristig verfolgen zu können. 33 DOMOSchüler_ innen wechselten schließlich an die Musikschule Dortmund.
Die Musikschule Dortmund hat sich hier engagiert und für sechs Monate eine Organisatorin eingestellt, die als Kontaktperson zwischen DOMO: Musik, Verwaltung, Lehrkräften und Familien fungiert und die vielen organisatorischen Ebenen im Hintergrund bedient.
Von Anfang an gehören Wochenendworkshops zum Konzept von DOMO: Musik. Zum einen dienen sie musikalischen Erfahrungen, die nur in der Gruppe gemacht werden können. Zum anderen ermöglichen sie ein Einschwingen in experimentelle musikalische Prozesse, die ihre Zeit brauchen. Zum dritten können Erfahrungen mit verschiedenen externen Lehrkräften gemacht werden, die spezielle musikalische Inhalte vertreten. Und schließlich sagt die Teilnahme an Wochenendworkshops auch etwas über ein persönliches Engagement für den aktiven Umgang mit Musik aus.
Workshops werden in folgenden Bereichen angeboten:
• Community Rhythm Circle
• Stockkampf
• Musik experimentell
• Vocal
• Latin Percussion
Ein interdisziplinärer Workshop wird zusammen mit DOMO: Kunst, dem Parallel-Projekt an der AWO Werkstatt Dortmund, durchgeführt. Titel: „Mein Blickwinkel Dortmund“. Während gemeinsamer Rundgänge an ausgewählten Dortmunder Orten sammeln die Künstler_innen visuelles und die Musiker_innen akustisches Material. In einer Installation im Rahmen eines Sommerfestes findet so die grafische Struktur der Möllerbrücke und der S-Bahngleise ihr Pendant in den Aufnahmen der Geräusche an- und abfahrender Züge. In der Ausstellung werden die Tonaufnahmen beim Herantreten an die Bilder hörbar.
Auch ein Konzert in der Reihe „Konzerte an besonderen Orten“ im Borusseum, dem Fußballmuseum des BVB, ist Ergebnis eines mehrtägigen Workshops. Mitglieder der bekannten Formation Station 17 aus Hamburg erarbeiten auf der Basis von Improvisationen auf elektronischen und traditionellen Instrumenten das Programm „Spitzenspiel“ aus Live-Musik und elektronischen Klangcollagen.
Das Musikmachen im Ensemble hat im Rahmen der Talentförderung begonnen; es wird in der Phase der Professionalisierung intensiviert. Es geht nun verstärkt darum, die erworbenen musikalischen Fähigkeiten in das Spielen im Ensemble einzubringen und sich schließlich auch immer öfter in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der persönlichen Erfahrung folgt die Teilhabe am öffentlichen Kulturleben als Akteur. Möglich wird dieser Weg der Professionalisierung durch bereits bestehende Kontakte der DOMO-Mitarbeiterinnen und über deren Zusammenarbeit mit professionellen Musiker_ innen aus dem Ruhrgebiet, Mainz und Hamburg.
Im zweiten und dritten Projektjahr werden folgende Gruppen gegründet:
piano plus - minimal crossover
NIA extd. version - Singer/Songwriter
i can be your translator - Eletropop & Musiktheater
Die Skeptiker - Pop, Jazz
Hurricane - Classic Rock
Marshall Cooper extd. version - Brass
Schon sehr schnell werden die Ensembles von regionalen und überregionalen Veranstaltern wahrgenommen und engagiert. Eine erste wichtige Station ist 2011 das internationale Straßentheater-Festival „Alles muss raus!“ in Kaiserslautern, bei dem Marshall Cooper extd. version auftritt.
Eine enge Verbindung besteht auch zum renommierten Dortmunder Jazzclub domicil – insbesondere zu dem dort stattfindenden DIS – Dortmunder inklusives Soundfestival –, das vom Verein Gesamtkunstwerk e. V. veranstaltet wird. Auch hier haben die DOMO- Ensembles schon früh die Möglichkeit, sich vor einem großen Publikum zu präsentieren.
seit ich mit der musik angefangen habe kann ich nicht mehr damit aufhören musik schüttet glückshormone über mich aus das beruhigt mich irgendwie wenn es keine musik geben würde dann müsste ich meine ordnung anders ausleben ordnung habe ich eigentlich nur wenn ich musik mache musik ist einfach was schönes das schönste an der musik sind die stücke von bach musik ist meine lieblingsfarbe musik bringt meine gedanken und gefühle in ordnung und gibt mir immer wieder neue energie musik ist mein Job musik macht spaß ich liebe musik ich finde die schönheit der klänge und das friedliche miteinander und die eine sprache die die ganze Welt versteht wenn man gemeinsam musiziert ein riesen geschenk grenzenlose freude und stolz musik ist leidenschaft ohne musik wäre das leben farblos und still wenn es keine musik geben würde dann könnten die hits im radio nicht mehr abgespielt werden musik macht fröhlich musik ist von tag zu tag ein neues abenteuer musik ist das unfassbare in tönen
Im Herbst 2010 wird das „Dortmunder U“ eröffnet: Im ersten Obergeschoß des imposanten Gebäudes wird der „Campus Stadt“ eingerichtet, die Hochschuletage der TU Dortmund.
Vom 6. September bis 7. Oktober 2012 widmet sich die Hochschuletage dem Thema Musik und Inklusion. Das Lehrgebiet Musik in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften trägt mit seinen Aktivitäten „InTakt“ und „Europa InTakt“ seit langen Jahren dazu bei, Modelle inklusiver Musikkultur zu entwickeln und zu vermitteln. Das „Dortmunder Modell: Musik“ zeigt, wie Teilhabe Schritt für Schritt gelingen kann, der Förderpreis InTakt zeichnet herausragende musikalische und inklusive Projekte aus. All dies soll mit der Ausstellung in kompakter Form für die Öffentlichkeit sichtbar werden.
Auf sechs freihängenden Bannern von zwei mal drei Metern werden sechs Tätigkeitsfelder dokumentiert. Jedes der Banner zeigt in einem großen Hauptbild, einer Bilderstrecke und einem Informationstext ein Tätigkeitsfeld, auf der Rückseite des Banners steht ein Zitat über Musik. Die Themen der Banner: „DOMO“, „Konzerte an besonderen Orten“, „Europa InTakt“, „Förderpreis InTakt“, „Projekte“ und „just fun“. Jedem der Banner ist ein permanent laufender Film zugeordnet, der die jeweiligen Aktivitäten dokumentiert – der Ton kann über Kopfhörer gehört werden.
In einem für die Ausstellung produzierten Kurzfilm beantworten DOMO-Mitwirkende Fragen wie „Was ist Musik“ oder „Warum singen die Vögel“ und nähern sich so der Frage nach der Bedeutung von Musik in ihrer Biographie an.
Fünf Konzerte und die Tagung „mittendrin“ der LKJ sind Teil des Ausstellungsprogramms. Informationen zur Ausstellung gibt es in Leichter Sprache und in Braille-Schrift, ein Audio-Guide steht zur Verfügung. Die Eröffnung wird von einer Gebärdensprachdolmetscherin begleitet. Die Ausstellung wird im Frühjahr 2013 im Pädagogischen Zentrum in Hamm und im Juli 2014 im Düsseldorfer Landtag gezeigt.
Drei Jahre DOMO: Musik. Drei Jahre Aufbau von institutionellen Kontakten und Strukturen führen zu einer produktiven Vernetzung der drei Dortmunder Werkstätten für Menschen mit Behinderung mit der Musik- und Kulturszene, den Musikschulen und der TU Dortmund. Drei Jahre Instrumentalunterricht für Menschen mit Behinderung bedeuten musikalische Entwicklung, Austausch zwischen verschiedenen Musikerinnen und Musikern und Aufbau projektbezogener oder auch dauerhafter Formationen. Drei Jahre inklusive Ensemblebildung bereichern das Dortmunder Musikleben um Perspektiven künstlerisch-inklusiver Arbeit, um die Öffnung von Veranstaltungsorten für inklusive Veranstaltungen und um eine wiederholte Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Inklusiven Soundfestival DIS.
Drei Jahre DOMO: Musik werden mit einem großen Abschlusskonzert gefeiert. Mit einem Konzert, das zeigt was in drei Jahren erreicht wurde – deshalb der Titel „Musikalische Mitteilungen“. Mit einem Konzert, das zukunftsweisend ist - deshalb domo vision.
Am 07. März 2013 stehen 80 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne des FZW Dortmund. 800 Besucher sind gekommen – viele von ihnen stehen auf der Empore. Es begrüßen Prorektor Univ.-Prof. Dr. Metin Tolan der TU Dortmund, der Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Dortmund und der Leitende Ministerialrat Roland Borosch des Bereiches Inklusion im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW. Ein fulminantes multimediales Konzert nimmt seinen Anfang. Ein Film mit Szenen aus drei Jahren DOMO wird zum Impulsgeber und roten Faden auch für die sechs Ensembles, die sich perfekt mit dem Film verbinden, sich lösen und wieder neu verbinden. NIA extd. version, piano plus, die Rock-Band Hurricane, Die Skeptiker und i can be your translator präsentieren sich mit weiteren Musiker_innen. Das große Finale: „We‘ve got the Power“. Nicht endender Applaus. Zugabe, Blumen.
Zum guten Schluss die Mitteilung an alle: mehr domokratie wagen! Nein, es ist kein Druckfehler.
In den Jahren 2013 und 2014 wird auf Initiative des Auswärtigen Amtes das Projekt „Deutschland & Brasilien 2013–2014“ durchgeführt: Deutschland zeigt sich als attraktiver Kultur- und Wirtschaftspartner. 140 Projekte aus Deutschland konnten sich in diesem Kontext in Brasilien präsentieren – eines von ihnen war piano plus. Die Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund, das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus São Paulo sowie die Staatskanzlei NRW haben die Reise ermöglicht.
Das Ensemble piano plus – angekündigt als piano inclusive – absolviert von 22. Oktober bis 02. November 2013 ein intensives Programm. In Rio de Janeiro präsentiert sich das Ensemble im Rahmen des internationalen Kongresses “Il Colóquio Internacional de Educação e Inclusão” mit Workshops, Podiumsdiskussionen und Konzerten an der Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro (UNIRIO). Auch in der Deutschen Schule lassen sich Leitung, Kolleg_innen und Schüler_innen von Konzept und musikalischer Qualität der inklusiven Formation überzeugen. In São Paulo ist eine Einrichtung der APAE der nächste Anlaufpunkt; die APAE ist der deutschen Lebenshilfe vergleichbar. Ein Abendkonzert an der USP, der Universität São Paulo und am darauffolgenden Tag ein Mittagspausenkonzert im Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) runden die Tournee ab.
Die Folgen der Reise: Ein interessiertes Fachpublikum in Brasilien hatte die Gelegenheit, die Arbeit von DOMO als beispielhaft für inklusive Prozesse kennenzulernen und Anregungen für die eigene Arbeit zu gewinnen. DOMO-Musiker_innen haben wiederum interessante Projekte in Rio und São Paulo kennengelernt und Anknüpfungspunkte zur eigenen Arbeit gesehen. DOMO war im Oktober 2014 in Rom im Rahmen der Tagung II Convegno Internazionale in Educazione e Inclusione präsent. Grundsteine für Musiktheater: weitere internationale Kontakte sind gelegt.
Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christoph Rodatz im Rahmen der Ausstellung „musik inklusiv“ und des Abschlusskonzertes domovision lässt noch während der DOMO-Laufzeit die Idee eines Musiktheaterprojektes entstehen, das von Lis Marie Diehl und Christoph Rodatz entwickelt wird. Akteure sind die Mitglieder des Ensembles i can be your translator und weitere DOMO-Musiker.
Das Thema: Marilyn Monroe. Als Filmikone hat Marilyn Monroe auch 50 Jahre nach ihrem Tod nichts an Glanz verloren – der Blick auf den Menschen Marilyn Monroe macht allerdings die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit dieser ungewöhnlichen Biografie deutlich. Gerade aufgrund der Diskrepanz zwischen Innen und Außen dient MM als Projektionsfläche für die Auseinandersetzung mit der eigenen Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Musikalische greift das Stück Songs auf, die von Marilyn Monroe in verschiedenen Filmen gesungen werden. Welthits wie „Diamond are the girls best friends“ oder „My heart belongs to Daddy“ sind dabei. Die Songtexte werden zu inhaltlichen und atmosphärischen Anknüpfungspunkten, die in ernsthaften und humorvollen Dialogen verhandelt werden. Im Wechsel zwischen Musik und Szene, Gesang und Dialog, Komik und Ernst, Verfremdung und Natürlichkeit liegt die Stärke der Produktion, die am 18. März 2014 im ausverkauften Dortmunder Domicil Premiere hatte; eine weitere ausverkaufte Vorstellung folgte am 3. Juni 2014. Weitere Gastspiele, u.a. am Schauspiel Dortmund sind derzeit ebenso in Planung wie neue Projekte.
Von und mit: Kathrin Eckhoff, Linda Fisahn, Christian Fleck, Milli Häuser, Achim Kämper, Bastian Ostermann, Anna Reizbikh, Christian Schöttelndreier, Alexander Tsitsigias, Laurens Wältken Konzept & Regie: Christoph Rodatz, Lis Marie Diehl
„Was nicht passt, wird passend gemacht“ – ein Motto, das der Machermentalität des Ruhrgebiets entspricht, wird zum Leitsatz der neuesten DOMO-Formation: Im Herbst 2013 fragt das Festival „Kultur vom Rande“ in Reutlingen bei DOMO nach einer Brass-Band für das Open Air-Programm im Rahmen des Reutlinger Stadtfestes. Eine gute Gelegenheit für Claudia Schmidt und Lis Marie Diehl, um ein neues Ensembles im Balkan-Stil zu gründen und endlich einmal mit interessanten Kolleg_innen aus dem süddeutschen Raum zusammen zu arbeiten.
So werden der Schlagzeuger Raimund Gerbl und die Saxophonistin Uschi Dittus aus dem Projekt „Berufung Musiker“ der Musikschule Fürth eingeladen. Zu den mitwirkenden DOMO-Musiker_innen und Musikprofis aus dem Ruhrgebiet zählen der mazedonische Akkordeonist Time Gorgiev sowie der Saxophonist Dimitri Markitantov aus der Ukraine, die für die original Balkan-Sounds verantwortlich sind. Ergänzt wird die Bläser-Sektion durch Rolf Hartung/Saxophon, Andreas Groß/ Trompete, Richard Käppeler/ Posaune.
Auch der Hamburger Sänger Carsten Schnathorst von barner 16 mit seinem Faible für die Musik des Balkans und slawische Sprachen darf nicht fehlen. Der nötige Groove wird getragen von der Rhythmuscombo rund um Marc Pawlowski / Schlagzeug, Stephan Lucka / Bass, Linda Fisahn / Percussion und Tobias Müller / Gitarre. Für den Crossover-Faktor ist Mike Herget mit seinen Raps zuständig. Namenspatron der Band ist „Hausmeister Paschulke“ – eine typische Ruhrgebietsfigur, natürlich verkörpert von Sänger und Ruhrpott- Original Bastian Ostermann. Dementsprechend geht es auch kleidungsmäßig eher hausmeisterlich zu: Der Lead-Sänger im grauen Hausmeisterlook, die Damen im Putzkittel, die anderen Herren im standesgemäßen Jogginganzug.
Am 28. Juni 2014 kommt es zur erfolgreichen Premiere in Reutlingen. Ein weiterer Auftritt am 3. Oktober 2014: In Den Haag repräsentiert sich das Land Nordrhein-Westfalen am Tag der Deutschen Einheit. Auf dem zentralen „Plein“ eine Bühne, zehn Zelte. Auf der Bühne das Tanzorchester Paschulke. Standidng ovations.
Das Projekt „Dortmunder Modell: Musik“ hat Perspektiven für musikorientierte Berufstätigkeiten von erwachsenen Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung entwickelt. Zunächst hat DOMO: Musik gezeigt, dass eine deutliche Anzahl von Werkstattbeschäftigten einen (Nachhol-) Bedarf an musikalischer Erwachsenenbildung, d.h. einen Bedarf an musikalisch-künstlerischer Aktivität hat. Zum anderen hat DOMO: Musik die Fragestellung vorangetrieben, wie sich im Anschluss an eine musikalische Qualifizierung von Werkstattbeschäftigten durch die Mitarbeit in professionellen und inklusiven Ensembles neue berufliche Tätigkeiten und Strukturen im Sinne eines künstlerischen Teilzeit-Arbeitsplatzes denken und entwickeln lassen.
Damit eine künstlerische Berufstätigkeit von Menschen mit Behinderung nicht nur in Ausnahmefällen bzw. in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund zustande kommen kann, bedarf es offensichtlich neuer organisatorischer Strukturen. Eine mögliche Organisationsform wäre eine Agentur, die zunächst in inklusiven Teams künstlerische bzw. kulturelle „Produkte“ entwickelt. Im zweiten Schritt wäre diese Agentur dann dafür verantwortlich, die entwickelten Produkte auch zu vermarkten. Unerlässlich wäre hierbei, dass solche Aktivitäten von Beginn an netzwerkartig geplant werden und stabile Kooperationen bzw. Partnerschaften mit den entsprechenden Akteuren des allgemeinen Kulturbetriebs sowie weiteren relevanten Institutionen (z. B. Schulen als Kunden für Weiterbildungsangebote zum Thema Inklusion) aufgebaut werden.
Für die nächsten Jahre wird sicher die Kombination Werkstatt-Arbeit und externe künstlerische Arbeit als jeweilige Teilzeitbeschäftigung von Interesse sein. Für diese Kombination müssen allerdings noch tragfähige Modelle entwickelt werden, die solche Strukturen finanziell absichern und gleichzeitig eine ständige künstlerische Weiterentwicklung und Qualifizierung der Werkstattbeschäftigten beinhalten. Die Praxis des Dortmunder Modell: Musik hat gezeigt, dass ein Bedarf an solchen Strukturen besteht.
Dr. Eva Krebber-Steinberger (Fach Musik / Fakultät Rehabilitationswissenschaften), Monika Klusenwirth (Geschäftsstellenleiterin / Fakultät Rehabilitationswissenschaften), Angelika Neuse, Anja Dahlhaus, Christoph Rodatz, Juliane Gerland, Dietmar Schmidt, Oskar Neubauer, Jonas Hinz, allen Mitarbeitenden der Werkstatt der Arbeiterwohlfahrt (WAD), insbesondere Klaus Hermansen, Thomas Kiesow, Claus Lobenstein, Hendrik Stute, Brigitte Lange, den Werkstätten Gottessegen, insbesondere Martin Körber, Michael Fischer, David Maus, Petra Beckmann und der Werkstatt über den Teichen (WÜT), insbesondere Frank Samsel, Dr. Daniel Bolte, Gudrun Leibfacher, Marie Sullivan,.
Musikschule Dortmund, insbesondere Volker Gerland, Christine Hartmann-Hilter, Angelika Neuse Max-Wittmann-Schule, insbesondere Frank Schmidt-Kamann, Anja Hormann, Schule Haus am Langendreer, insbesondere Frank Zöllner, Michael Bill, Margit Duberke, Musikschule Bochum, insbesondere Manfred Grunenberg, Rainer Buschmann, Universidade São Paulo (USP), Universidade Fedral do Estado do Rio de Janeiro, FZW Dortmun, domicil Dortmund, Kultursalon Schiller 37, Gesamtkunstwerk e. V., InTakt e. V., den Förderern von Projekten im Kontext von DOMO domo vision, Jugendamt der Stadt Dortmund, Kulturfonds der TU Dortmund, Ausstellung „musik inklusiv“ Kulturfonds der TU Dortmund, Landesvereinigung für Kulturelle Jugendbildung (LKJ) Brasilien-Tournee Piano Plus: Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Lateinamerikabüro der Universitätsallianz Ruhr, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Deutsches Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) São Paulo, Displace Marilyn Monroe: InTakt e. V., Aktion Mensch, Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Kulturbüro der Stadt Dortmund, NRW Landesbüro Freie Kultur e. V., DEW 21.
Norina Centeno-Bermejo Ulrike Gammel Hannah Gröber Chantal Grüe Sebastian Herbst Christian Hoffmann Julia Hülsken Julius Jeske Lina Jung Frauke Koch Kristin Langer Simona Lumpp Matthias Mückshoff Crispin Müller Ann-Cathrin Niegsch Marie Patzelt Heidi Reiners Sarah Schlüter Pascal Vogt Lorena Wulff
Serge Corteyn Franziska Gruner Milli Häuser Sebastian Herbst Achim Kämper Philipp Kreperat Reinhard Kruber Hendrik Lensing Judith Pielsticker Alex Pinto Beate Rodenhäuser Sarah Schlüter Martin Siehoff Pascal Vogt Christoph Wiese
Tobias Bade Jane Bentley Christian Fleck Christoph Grothaus Steffen Naumann Alexander Tsitsigias
Anita Aruntharavaja Roman Babik Stephanie Bernhard Alexander Bilk Sarah Borowski Constance Boyde Ekrem Cobarloglu Ana Corsten Serge Corteyn Hoang Tam Do Frank Dönitz Kathrin Eckhoff Linda Fisahn Eva Fischer Christian Fleck Dirk Föllmer Benjamin Franke Siyavash Gharibi Johannes Goltz Jonas Görlach Volker Groenwald Markus Günther Sonja Hansen Milli Häuser Stephanie Heidgen Mike Herget Daniel Herröder Manuel Hilleke Annette Hillinger Reiner Ibel Markus Isenbruch Gerd Peter Jansen Heike Jordan Robert Jörgens Angela Kaballo Achim Kämper Michael Kehraus Uwe Kellerhoff Marvin Kollosch Alexander Koschany Philipp Kreperat Reinhard Kruber Yvonne Kuhnke Ute Lange Julia Lechtape Christian Lenzian Norbert Manghofer Tobias Müller Fernando Müller-Habig Harold Nardelli Bastian Nau Alexander Nowakowski Bastian Ostermann Judith Pielsticker Alex Pinto Claudia Pottinger Thomas Rauer Philipp Rausch Anna Reizbikh Beate Rodenhäuser Lars Ulf Rüdiger Stefanie Rutz Stephan Schäfer Christian Schatka Thomas Schauer Heidi Schinkelewitz Florian Schlechtriemen Burkhard Schmidt Markus Schöler Christian Schöttelndreier Steav Schran Felix Schröder Dennis Shafi-Azad Martin Siehoff Stefan Singh Ganjia Smarka Stephan Smirlowski Anke Smorlarski Svenja Stedtler Maria Stier Alba Strauß Stefan Straußberger Sebastian Stuber Daria Tadus Noel Tiedtke Alexander Tsitsigias Dennis Übel Tieu Kha Vu Laurens Wältken Christoph Wiese Alexander Will Ephraim Winkler Antonia Wohlgemuth Marcel Wurlitzer Hüsseyin Yakar Rene Zander Pia Ziemons
Die Dokumentation Dortmunder Modell: Musik wurde gefördert von der Fakultät Rehabilitationswissenschaften und dem Kulturfonds der TU Dortmund
Das Dortmunder Modell: Musik wurde gefördert vom Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen.
Musik und Inklusion beginnt in Deutschland nicht erst mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Musik und Inklusion beginnt dreissig Jahre früher, zumindest in Bochum und Dortmund. Werner Probst ist Professor für "Musik bei Behinderten" an der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund und sein Verständnis von Mensch und Musik möchte ihn beweisen lassen, dass Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen natürlich auch Schülerinnen und Schülern an der Musikschule werden können. Der von ihm initiierte Modellversuch "Instrumentalspiel mit Behinderten", durchgeführt in den Jahren 1979 - 1983, hat unmittelbare Folgen bis heute - und die Bochumer Musikschule, deren Gründungsleiter Probst in den 1960er Jahren war, ist bis heute Kernland und Herzstück von Musik und Inklusion.
Literatur:
Werner Probst: Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen. Mainz; Schott 1991
Werner Probst: Fortbildungen des Verbandes deutscher Musikschulen zu „Musik mit behinderten Menschen“ in: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hrg): Eigensinn & Eigenart. Kulturarbeit mit Menschen mit Behinderung. Remscheid 1999
Am 09. und 10. November 2010 wurde 40 Jahre Bochumer Modell gefeiert.
40 Jahre Bochumer Modell Jubiläumsfilm: https://youtu.be/UrEPBSNnCTI
Jubiläumsfilm Jingle 1: https://www.youtube.com/watch?v=-B75D-kpP9s
Jubiläumsfilm Jingle 2 https://www.youtube.com/watch?v=ZA5yxvk4VpI
Ein Artikel aus der neuen musikzeitung Nr. 12 2019 unter https://www.nmz.de/artikel/jeder-mensch-ist-musikalisch
Vor drei Jahren, Ende Oktober 2016, wurde in Bochum das Anneliese Brost Musikforum Ruhr eröffnet. Architektonisch in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet ist die Trias St. Marien-Kirche als würdigem Foyer, großem Konzertsaal mit etwa 1000 Plätzen auf der einen und kleinerem Multifunktionsaal auf der anderen Seite. Das Gebäudeensemble ist nicht nur Heimat der Bochumer Symphoniker, sondern auch der Musikschule Bochum: Die Mehrfachnutzung war Vorbedingung für die Genehmigung durch den Rat der Stadt.
Ungefähr zum Dreijährigen des Musikforums also feierte das Bochumer Modell –Musik und Inklusion am 09. Und 10. November 2019 seinen Vierzigsten: 1979 begann der Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“, so auch der Titel der Veröffentlichung zum Modellversuch, 1991 herausgegeben von Werner Probst, dem Initiator des Modells.
Werner Probst, Gründungsleiter der Musikschule Bochum in den 1960er Jahren, war als Musikpsychologe und zutiefst demokratisch gesinnter Mensch von der grundlegenden Musikalität eines jeden Menschen überzeugt: „Jeder Mensch ist grundsätzlich in der Lage, Musik zu erleben und ist in diesem Sinne `musikalisch`“. Die Tatsache, dass in den damaligen Jahrzehnten kaum Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen ein Instrument erlernten, brachte Werner Probst in heiligen Zorn und dazu, über das Forschungsszenario Modellversuch nachzuweisen, dass Kinder an Sonderschulen natürlich auch erfolgreich die Musikschule besuchen können.
Nun, es gab zwei Vorläuferversuche, die wenig erfolgreich verliefen – aber Probst ließ sich nicht beirren. Neue Runde, neue Konzepte, neuer Versuch. Also genau die Haltung, die im Kontext Inklusion immer noch unabdingbar ist: Nicht wissen wie es geht, kann nicht heißen, es nicht zu machen. Risiko des Scheiterns aber auch des Gewinnens inbegriffen.
Vier Jahre Modellversuch von 1979 bis 1983 machten klar, wie es geht: Zunächst eine Präsentation verschiedener Instrumente mit der Möglichkeit des Ausprobierens und Experimentierens in der Förderschule – damals genannt Motivationsphase - mit abschließender Instrumentenwahl durch die Kinder, anschließend instrumentaler Kleingruppenunterricht während der Schulzeit und schließlich einmal wöchentlich Zusammenfassung aller Gruppen zu einem bunten Orchester.
Wem das bekannt vorkommt: Ja, die Grundstruktur des Modellversuchs ist auch die des späteren Großprojektes Jedem Kind ein Instrument.
Nächste Erkenntnisse: Die Kooperation von Schule und Musikschule ist unabdingbar. Und: Lehrkräfte an Musikschulen sind mit ihrer musikalischen und pädagogischen Kompetenz genau richtig für das Unterrichten von Kindern mit Beeinträchtigungen – sie müssen allerdings für diese Arbeit aus- bzw. fortgebildet werden.
Probst gründete in der Folge den „Berufsbegleitenden Lehrgang Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung an Musikschulen“ mit der unvergleichlichen, aber nicht mehr änderbaren Abkürzung BLIMBAM. Der Lehrgang bildet seit nunmehr seit mehr als 30 Jahren Lehrkräfte an Musikschulen für das Unterrichten von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung, aber auch für die inklusive Ensemblearbeit aus. Die erste Nach-Probst-Generation, Claudia Schmidt und Robert Wagner, führt BLIMBAM erfolgreich weiter. Übrigens, der nächste Lehrgang beginnt im Januar 2020. Die zweite Nach-Probst - Generation tritt allmählich in bundesweite Fußstapfen: All diejenigen, die BLIMBAM durchlaufen haben, bringen das Thema Inklusion in ihre Musikschulen und neue Impulse ein.
Langsam, aber stetig wachsen nicht nur die sogenannten Fallzahlen, sondern es wächst auch die Qualität: Das Konzert von „just fun“ war nicht „nur“ das Konzert eines inklusiv arbeitenden Ensembles, sondern ein Stück Bigband-Hochkultur, das auf jede Bühne dieser Republik gehört.
Möglich werden solche Konzerte durch Personen, die das gesellschaftliche Thema der Inklusion ernst nehmen und musikalisch gestalten, Personen wie hier in Bochum Claudia Schmidt. Aber auch Claudia Schmidt kann nicht alles alleine machen – sie ist Teil eines Netzwerks, das in unterschiedlichen Aufgaben Inklusion gestaltet. Eine Musikschule braucht, daran kann es keinen Zweifel geben, in Sachen Inklusion einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin, einen Ansprechpartner, eine Ansprechpartnerin, braucht reale Menschen, die Fragen beantworten und Zweifel ausräumen, braucht auch ein wohlwollendes Kollegium, das in den alltäglichen Fragen auch weiterhilft. Die Generation der Ansprechpartnerinnen: Auf die erste Abteilungsleiterin Karin Hedderich folgen Angelika Neuse (1989), Renate Müllemann (1993) und Marei Rascher (1997); derzeit ist Rainer Buschmann Inklusionsbeauftragter und damit auch die Kontaktperson für die Abteilung Bochumer Modell - Musik für Menschen mit Behinderungen.
Der 10. November 2019 war in Bochum drinnen wie draußen ein strahlender Herbsttag: Das Jubiläumsfest brachte würdigende Reden und vor allem viel gute Musik in allen Sälen. Das Wandelkonzert hat es gezeigt: Die Musikschule Bochum ist bundesweit die Herzschule musikalisch-inklusiver Arbeit. Das werden alle anderen Musikschulen vielleicht etwas neidvoll, vielleicht aber auch neidlos anerkennen.
In Folgenden ein sehr persönlicherText von Werner Probst aus dem Jahr 1998 anlässlich der ersten bundesweiten Weiterbildungsveranstaltung InTakt 98 an der Universität Dortmund. In seiner unnachahmlich humorvollen und gleichzeitig sachlichen Art schildert er die Anfänge, Stolpersteine und Wandlungen des Bochumer Modells, das schließlich zu 40 Jahren erfolgreicher Musikschularbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung und mittlerweile zu vielen inklusiv arbeitenden musikalischen Ensembles nicht nur an der Musikschule Bochum führt.
Wenn ich an der Universität Dortmund im Rahmen von InTakt 98 spreche, so ist das für mich ein „Heimspiel“ mit allen positiven und negativen Seiten. Das Positive: man kennt den „Rasen“, den Rahmen, man begegnet alten Mitspielern, man ist in einer Altersgruppe der „Alten Herren“, die man mit wohlwollendem Schmunzeln betrachtet; sie können noch eine Menge, sind nicht mehr die Schnellsten und nehmen alles nicht mehr so ernst. Das Negative: man hört es schon flüstern „mein Gott, den gibt es immer noch, das hat er uns schon vor 10, 20, 25 Jahren erzählt“.
Dazwischen pendle ich, und da man mich „unter Vertrag“ genommen hat, spiele ich, besser: rede ich und spiele meine Stärken aus. Sie werden also etwas aus der Vergangenheit an der Universität Dortmund hören, von den Grundüberlegungen, den Beobachtungen, den Schulversuchen, von einem Modellversuch und seinen Folgen, vom aktuellen Stand der Musik mit behinderten Menschen an Musikschulen.
Vieles, was dort entstand, ist mit meiner Person verbunden: Von der Ausbildung her Musiklehrer und Psychologe, von der Habilitation her Hochschullehrer für Musikerziehung und Rehabilitation Behinderter, tätig als Musikschullehrer und Musikschulleiter, Vorstandsmitglied dann Ehrenmitglied des Verbandes deutscher Musikschulen, z.T. gleichzeitig Inhaber des Lehrstuhls für Musikerziehung Behinderter an der Universität Dortmund.
Ich fange die Geschichte beim Ursprung des Faches Musikerziehung mit Behinderten an der Pädagogischen Hochschule, später Universität Dortmund, an. Als ich 1969, also vor nunmehr 30 Jahren zur damaligen Abteilung für Heilpädagogik der Pädagogischen Hochschule nach Dortmund kam, gab es das Fach Musik mit Behinderten nicht und musste eingerichtet werden. Ich teilte mir mit dem Kunstkollegen eine Sekretärin und fand zu meiner ersten Vorlesung einen Studenten vor. Ich kümmerte mich fortan um das „Musische“ der Studenten für Heilpädagogik, die sog. Aufbaustudenten, d.h. Volksschullehrer, die für 4 Semester vom Dienst freigestellt waren um zum Sonderschullehrer ausgebildet wurden. Zwei oder drei Jahre später konnte man Sonderpädagogik „grundständig“, also direkt nach dem Abitur studieren, und Musik als Unterrichtsfach wählen.
Die Befürworter des Faches innerhalb der Abteilung, später des Fachbereiches und auch der Hochschule sahen vor allem die therapeutische Wirkung von Musik, wie sie in Lehrplänen für die verschiedenen Sonderschulen oft empathisch beschrieben wurden. Wir, das waren neben mir meine Assistentin und die Studenten, stellten folgenden Überlegungen an: wenn alles das stimmt, was in den Lehrplänen steht, dann sollte man es nicht in der Weise pauschal ansprechen „man singt und alles regelt sich“, sondern gezielt auswählen, anwenden, beobachten. Wir entwickelten aus diesen Überlegungen die „Pädagogische Musiktherapie“, eine Anwendung von Musik, die nicht in die Kompetenz der medizinischen Seite eingreift, sondern im pädagogischen Umfeld wirksam werden kann.
Eine zweite Überlegung: Unser Grundansatz war, dass jeder Mensch in der Lage ist, Musik zu erleben und in diesem Sinne „musikalisch“ ist. Wenn Schallereignisse als Musik wahrgenommen werden und nur dann Musik sind, findet ein Lernprozess statt im Sinne von Wahrnehmen, Speichern, Wiedererkennen, Wiederverwenden. Wieso sollte es nicht möglich sein, Behinderten Kenntnisse von Musik zu vermitteln? Kein Problem schien es bei körperlich Behinderten oder Sinnesgeschädigten, für die Lernbehinderten hatte man die „kleinen Werke großer Meister“, aber bei den Geistigbehinderten? In vielen Schulversuchen an Sonderschulen in Dortmund und Bochum stellten wir fest, dass und wie Musik vermittelbar, lernbar sein konnte.
Unsere erste grundlegende Fragestellung war, ob eine Korrelation zwischen Intelligenz und Musikalität nachzuweisen sei, was man im schulischen Umfeld nicht müde wurde zu behaupten. Uns war klar, dass wir es mit zwei sehr verwaschenen Begriffen zu tun hatten, nach denen Intelligenz das war, was der Intelligenztest misst und Musikalität das war, was der Musikalitätstest misst. Wir bezogen uns auf Untersuchungen von Schülern an Gymnasien und gleichaltrigen lernbehinderten Sonderschülern, bei denen sich ein signifikanter Unterschied zugunsten der „intelligenteren“ Gymnasialschülern zeigte. Unsere Versuchsanordnung sah vor, die Testanweisung des sog. Bentley–Tests von unnötigen verbalen Anweisungen zu befreien und die Aufgaben in anschaulicher Weise zu vermitteln. Das Ergebnis war, dass zwischen beiden zu vergleichenden Gruppen kein signifikanter Unterschied festgestellt werden konnte. Der entscheidende Fehler der anderen Untersuchungen war, dass mit der Testanweisung des Musikalitätstests gleichzeitig das Verhalten im Sinne eines Intelligenztests ermittelt wurde. Ein weniger hoher Wert des IQ lässt keine Rückschlüsse auf musikalische Anlagen zu, wohl aber auf zu erwartende Schwierigkeiten im Lernprozess – der Lehrer ist also gefordert.
Der Übergang von den 60er in die 70er Jahre brachte eine wesentliche Neuorientierung des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen. Die Musikdidaktiken von Michael Alt (1968), Heinz Antholz (1970), Dankmar Venus (1969) – um die wesentlichen Veröffentlichungen zu nennen – wirkten umwälzend. Sie stellten, wie Alt und Venus, das Hören von Musik in den Mittelpunkt eines tätigen „Unterrichts in Musik“, sie entwarfen, wie etwa Antholz ein Vokabular, das von der „Introduktion in die Musikkultur“ sprach und die Aufgabe darin sah, Musik hören zu lehren.
Wir haben in Dortmund die Signale verstanden, mussten dabei jedoch einsehen, dass ohne eigene Spiel- und Bewegungstätigkeit der Unterricht in Musik über den Kopf lief und unanschaulich wurde. Das musste gerade bei den Schülern, für die wir in der Hauptsache zuständig waren, Ratlosigkeit hervorrufen. Drei Ereignisse brachten für uns die Lösung im Sinne der sonderpädagogischen Grundregeln, die Ihnen geläufig sind, insbesondere die der Anschaulichkeit.
Das eine war ein ganz banales Ereignis, das ich als Musikschulleiter hatte. Ich schaffte für meine Musikschule, die im Entstehen war, Oboen an und ließ den Oboenlehrer die Instrumente ausprobieren. Sie kennen das: zusammensetzen des Instrumentes, schauen, dass Hebel und Gestänge im rechten Lot sind, Röhrchen in den Mund nehmen, daran lutschen, bis es weich ist, das Röhrchen aufstecken und dann einige Kaskaden spielen. Meine Sekretärin saß dabei, sie hatte noch nie eine Oboe gesehen. Nach einigen Tagen sagte sie zu mir: „Herr Probst, ich höre dauernd Oboen, jedes Mal, wenn ich Musik höre, merke ich, dass da eine Oboe mitspielt.“ Ich sah einen Weg, das Unanschauliche einer über Lautsprecher übertragenen Musik durch das Erlebnis von Musikinstrumenten, die in einem bestimmten Musikstück vorkamen, anschaulich und damit begreifbar zu machen. So musste es möglich sein, das Unterrichtsfeld des Hörens von Musik in den Unterricht mit Behinderten einzubeziehen.
Nahezu gleichzeitig machte Mauricio Kagel seine Workshops, in denen Instrumente aus Umweltmaterialien gebaut wurden und erschien Gertrud Meyer-Denkmanns Buch „Klangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter“. Beide, Kagel wie Meyer-Denkmann, revolutionierten das praktische Musizieren in den Schulen. Ich brauche hier nicht weiter darauf einzugehen; denn von beiden Anstößen lebt die Musikpädagogik noch heute.
Auch wir übernahmen den unkonventionellen Umgang mit Musik, fanden neue Spielregeln, bauten Instrumente nach und vermittelten den Kindern Grunderkenntnisse der Klangerzeugung durch Blasen, Zupfen, Streichen, Schlagen.
Das dritte Ereignis spielte sich wieder auf der Musikschulebene ab. Ich leitete etwa zur gleichen Zeit die Lehrplankommission des Verbandes deutscher Musikschulen, die einen neuen Lehrplan für die Musikalische Grundausbildung an Musikschulen erstellen sollte. Die Musikschulen sind keine Ausbildungsstätten, die sich vorwiegend mit dem Hören von Musikwerken befassen, wie es die damalige Didaktik für die Grund- und Hauptschulen sah, sondern in denen Musik gemacht wird. Hier nun konnten unsere Erfahrungen, die wir in Dortmund mit unseren behinderten Schülern gemacht hatten, einfließen: Das elementare Instrumentalspiel auf der Grundlage von Klangexperimenten, Musik und Bewegung von der freien Bewegung bis zum Folkloretanz, Singen mit dem Gebrauch der Stimme im Lied, im freien Ausdrucksbereich, im Sprechen, eine Information über Instrumente, Musikhören, das sich am erlebten Instrument orientierte und an anderen anschaulichen Unterrichtshilfen, eine Musiklehre, die nicht Selbstzweck war, sondern Erfahrungen aus den anderen Bereichen aufgriff. Dieser Lehrplan, der in seinen Grundideen nach einer Revision noch heute an Musikschulen Bestand hat, war Grundlage unseres Unterrichts in Musik an Sonderschulen – und wurde Vorbild für viele Lehrpläne des Musikunterrichts an Grundschulen.
Wir sahen die Ergebnisse und wussten, dass unsere Kinder viel mehr zu erfahren in der Lage waren als man es ihnen zutraute. Wir waren auf dem Wege der Normalisierung, vom Grundsatz her „das Kind kann“ und nicht die defizitäre Einstellung „das Kind kann nicht“.
In dieser Zeit eines optimistischen Aufbruchs wurden wir von Eltern und von Musiklehrern immer wieder um Rat gefragt: „Mein Kind ist so musikalisch, hört gerne Musik, singt immerzu, kann bei Musik nicht ruhig sitzen, möchte Klavier spielen .....was kann ich tun?“
Wir mussten in den meisten Fällen die Antwort schuldig bleiben, weil uns die Erfahrung fehlte, weil ich dem Musiklehrer nicht sagen konnte: „Probier’s mal, es wird schon gehen.“
Nicht, weil wir unserer Grundeinstellung untreu wurden, sondern weil wir das Defizitäre bei den Lehrern befürchteten.
Und weil wir sahen, wie „normal“ die Kinder in den Schulversuchen sich entwickelten, beschlossen wir, das waren im Laufe der Jahre mit mir Brigitte Steinmann, Karl-Jürgen Kemmelmeier, Irmgard Merkt, Beatrix Lumer als Assistent/innen und/oder Akademische Räte (heute alle wohlbestallte Professor/innen) und die Studenten, die sich im Kolloquium trafen, es selbst einmal mit einem Instrumentalunterricht zu versuchen.
Zwei Vorversuche scheiterten: Wir versuchten es mit Unterricht auf Trompeten und Posaunen bei lernbehinderten Schülern. Wir konnten 12 Trompeten und 8 Posaunen anschaffen – eine Großzügigkeit der Hochschule, die mich nie wieder getroffen hat - und warben in einer Schule für Lernbehinderte für einen Unterricht auf diesen Instrumenten. Es meldeten sich 16 Jungen und Mädchen für diesen Unterricht, der auf zwei Jahre geplant war und den zwei Instrumentallehrer der Musikschule Bochum durchführten, mit Unterstützung des Klassenlehrers und eines Studenten, der darüber seine Staatsarbeit schrieb. Die Schüler hatten vormittags eine allgemeine, vorbereitende Musikstunde in der Sonderschule und kamen nachmittags in ihre Schule zum Instrumentalunterricht in Vierergruppen.
Der Unterrichtsbesuch wurde bereits nach einigen Wochen z.T. unregelmäßig besucht, nach einem halben Jahr fehlten bereits zwei Posaunen und zwei Trompeten. Die Ausreden waren vielfältig: „Mein Bruder hat sie mir weggenommen“, „Plötzlich war sie kaputt“, Ich hab‘ sie verloren“ usw. Nach einem Jahr machten noch vier Trompetenspieler und eine Posaunenspielerin weiter. Der Versuch war gescheitert. Bei einem weiteren Versuch fand der Unterricht in Räumen der Musikschule statt, um die Kinder am Nachmittag nicht erneut in das Sonderschulgebäude kommen zu lassen. Auch dieser Versuch schlug bereits nach einem halben Jahr fehl.
Wir zogen das Resümee: Kinder erwarten vom Instrumentalunterricht, dass möglichst schnell ein akzeptables musikalisches Ergebnis erreicht wird. Lernbehinderte kommen nicht gerne am Nachmittag noch einmal in dieselbe Schule, wenn das, was dort geschieht, nicht besonderen Spaß macht. Die Musikschullehrer konnten den Spaß nicht vermitteln. Sie gehen, an Konservatorien oder Musikhochschulen ausgebildet, in der Regel vom Instrument aus und nicht vom Kind – daran hat sich bis heute nur in wenigen Fällen etwas geändert. Töne zu halten auf einem Blechblasinstrument ist zwar wichtig, als Selbstzweck jedoch höchst unmotivierend. Posaune ist für intelligenzschwache Kinder oder Jugendliche das falsche Instrument – eine Beobachtung, die seither an verschiedenen Stellen gemacht wurde, ohne dass man der Ursache bisher auf den Grund gekommen ist – Ventilposaune oder Tenorhorn zu lernen ist möglich, da diese Instrumente mit Ventilen und nicht mit einem Zug versehen sind. Und eine weitere Erkenntnis: es müssen nicht Blechblasinstrumente sein.
Ein neuer Anlauf wurde gemacht: wenn es mit Lernbehinderten, mit Blechblasinstrumenten für alle, mit Musikschullehrern nicht geht, dann versuchen wir es mit Geistigbehinderten, mit Instrumenten nach Wunsch, mit Instrumentallehrern, die über eine sonderpädagogische Ausbildung verfügen. Dieser Versuch soll hier kurz dargestellt werden:
Wir wählten eine Klasse an einer Schule für Geistigbehinderte, an der ich seit einem Jahr Musikunterricht erteilte. Es waren 12 Mädchen und Jungen einer Unterstufe vor dem Übergang zur Mittelstufe. In dem für ein halbes Jahr geplanten Unterricht wurde nun verstärkt das Kennenlernen von Musikinstrumenten in den Mittelpunkt gestellt und zwar solche Instrumente, für die sonderpädagogisch ausgebildete Lehrer zur Verfügung standen: Klavier, Blockflöte, Akkordeon, Trompete. Die Prinzipien der Tonerzeugung durch Anblasen und Anschlagen wurden im Anfertigen von Weidenflöte, Schlauchtrompete, Monochord, Metallzungen und Blasebalg erfahren, diese Tonerzeugung selbst erprobt, danach die richtigen Instrumente selbst gespielt, von einem Lehrer oder fortgeschrittenen Schüler der Musikschule vorgespielt. Musik, in der jeweils eines der Instrumente eine hervorgehobene Rolle spielte, wurde, versehen mit Höraufgaben, gehört. Mit Bewegungsspielen und Übungen der Rhythmik wurden die Kinder gefördert, ihr Bewegungsverhalten und ihr Zugriff zu den Instrumenten wurde beobachtet. Nach dem halben Jahr sollten die Kinder sagen, welches Instrument sie am liebsten mögen. Das Spiel dieses Instrumentes sollten sie erlernen. Da einige Kinder kein Sprachvermögen hatten oder ihre Mitteilungen nicht verständlich waren, wurden Karten mit der Abbildung der zur Auswahl stehenden Instrumente vorgelegt, die Kinder zeigten dann auf das betreffende Bild. Vier Kinder wählten Blockflöte, vier Kinder Trompete, zwei Kinder Klavier und zwei Kinder Akkordeon. Im Anschluss daran erhielten sie in Vierer- bzw. Zweiergruppen während der Schulzeit Unterricht auf ihren Instrumenten im Wechsel mit Bewegungsspielen in Räumen der Musikschule, die zu Fuß zu erreichen war.
Interessierte Lehrer/innen der Musikschule nahmen zunächst beobachtend, dann selber unterrichtend an diesem Versuch teil, der erfolgreich verlief und zur Vorlage wurde für den Modellversuch des Verbandes deutscher Musikschulen: Instrumentalspiel mit Behinderten und von Behinderung Bedrohten – Kooperation zwischen Musikschule und Schule. Entsprechend den Bedingungen eines Modellversuchs fand er von 1979 - 1983 in Verbindung mit dem Kultusministerium von Nordrhein Westfalen und der Bund-Länder-Kommission 1983 statt. Die Stadt Bochum unterstützte den Versuch und stellte u.a. Räume der Musikschule zur Verfügung.
In den Modellversuch wurden lernbehinderte, geistigbehinderte, körperbehinderte Kinder und „von Behinderung bedrohte Kinder“ einbezogen, in 21 Gruppen wurde unterrichtet. Jedem dort unterrichtenden sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrer – es waren in erster Linie Studenten der letzten Semester, die auf diese Aufgabe von uns besonders vorbereitet waren – wurde ein Musikschullehrer aus Musikschulen verschiedener Städte Nordrhein-Westfalens, Bremens, Niedersachsens und Hessens zugeteilt, die nach der Hospitation am Vormittag nachmittags in sonderpädagogische Fragen eingeführt wurden. Die Zeit des Vertrautmachens mit Instrumenten wurde von uns als Motivationsphase bezeichnet und ist nach wie vor das zentrale Geschehen im Suchen und Finden des „richtigen“ Instrumentes. Zum Zeitpunkt des Beginns des Modellversuchs wurden neben den bereits genannten Instrumenten auch Geige, Klarinette, Schlagzeug, Gitarre angeboten. Im weiteren Verlauf der zunehmenden Verbreitung des Unterrichtens von Behinderten als Schüler an Musikschulen, gab es generell kein Instrument, das ausgeschlossen wurde.
Aus dem Modellversuch entwickelte sich eine 1½ jährige berufsbegleitende Fortbildung „Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen“, die seitdem alljährlich beginnt.
Es führt im Rahmen dieses Berichtes zu weit, auf weitere Inhalte und Ergebnisse des Modellversuchs einzugehen. Veröffentlichungen sind hierzu erschienen und erhältlich. Vor allem sei auf meine Veröffentlichung „Instrumentalspiel mit Behinderten – Ein Modellversuch und seine Folgen“, Mainz 1991, hingewiesen.
Nach nunmehr 20 Jahren hat sich das von der Universität ausgehende, an der Musikschule Bochum erprobte Modell bundesweit ausgebreitet. 450 von 920 Musikschulen in Deutschland unterrichten heute behinderte Menschen. Das ist viel, wenn man an den Beginn denkt, das ist zu wenig, wenn man sieht, dass jede zweite Musikschule sich noch ausschließt.
Auf der Suche nach Gründen für den langen Weg bis zu einer Normalisierung des Verhältnisses behinderte Menschen – Musikschule konnte ich in vielen Gesprächen mit Leitern von Musikschulen und mit Lehrkräften immer wieder feststellen, wie wenig informiert man über Behinderung und deren Probleme war und ist. Damit unterscheidet sich dieser Personenkreis in keiner Weise von der Gesamtbevölkerung. Die Unsicherheit der Musikschulpädagogen ist schon verständlich, wenn sie sich die Frage stellen: Wie sollen wir es denn anfangen? Und die nachfolgende Frage: Sind wir überhaupt zuständig? Da gibt es die Sonderschulen mit ihren hierfür ausgebildeten Lehrkräften, sie sind doch entsprechend ausgerüstet und eigentlich zuständig.
Auf dem Wege zur Realisierung unseres Vorhabens war gerade diese Argument, auch von administrativer Seite häufig vorgetragen, immer wieder zu entkräften. Abgesehen davon, dass die Zahl an fachlich ausgebildeten, also im Fach Musik ausgebildeten Sonderschullehrern an allen Sonderschularten völlig unzureichend ist, beherrscht jeder der im Fach Musik ausgebildeten Lehrer ein, im Sonderfall zwei Instrumente in der Weise, dass er Instrumentalunterricht erteilen könnte. Damit verbleiben ein oder zwei Instrumente aus der Vielzahl der Wunschmöglichkeiten für alle Schüler einer Schule. Das Angebot verringert sich weiterhin dadurch, dass der betreffende Sonderschullehrer neben dem regulären Klassenunterricht Instrumentalunterricht erteilen müsste – hier setzen bereits arbeitsrechtliche und stundenplantechnische Vorgaben eine Grenze. Auf diese Weise könnten nur wenige Schüler eine Unterweisung im Spiel eines Instrumentes erhalten.
Nein, der geeignete Ort für die Unterweisung in musikalischer Tätigkeit über den – hoffentlich stattfindenden – allgemeinen Musikunterricht hinaus ist die Musikschule. Sie muss die Aufgabe zur gezielten Musikausbildung behinderter Menschen übernehmen, sie hat die Möglichkeiten zur instrumentalen Ausbildung auf einer Vielzahl von Instrumenten, zum Ensemblespiel und zu einer musikalischen Frühförderung oder Grundausbildung.
Ernst zu nehmen ist die Frage nach dem methodischen Vorgehen. Hier sammelten wir vor und während des Modellversuchs und in den Nachfolgejahren wertvolle Erkenntnisse, die wir in Kursen und in dem bereits angesprochenen berufsbegleitenden Lehrgang, der alljährlich im Januar beginnt, an Lehrkräfte von Musikschulen weitergeben. Die Musikschullehrer sind die geeigneten Lehrkräfte dann, wenn sie um die sog. „sonderpädagogischen Prinzipien“ wissen, die ihren Unterricht leiten sollen: die kleinen Schritte, die Anschaulichkeit, die Wiederholung, die Zurücknahme der sprachlichen Anweisung, die Tendenz zur abnehmenden Hilfe mit dem Ziel der Selbstständigkeit.
Die Musikschulen müssen, wollen sie allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zur musikalischen Tätigkeit bieten, mit den Sonderschulen und Schulen kooperieren. Hier treffen sie die behinderten Kinder, an die sie auf dem üblichen Weg der Anzeigenwerbung, der Mund-zu-Mund-Empfehlung nicht herankommen. Die Eltern sind in der Regel nicht informiert über die Fähigkeiten ihres Kindes, über die Möglichkeiten zur Musikbetätigung, über die Angebote einer Musikschule – wenn sie denn da sind.
Ein erheblicher Anteil der Schüler an Sonderschulen für Lernbehinderte kommt aus einem sozialen Umfeld, für das Musikmachen in einer Musikschule einem kulturellen Bereich angehört, zu dem man keinen Zugang hat. Zudem besteht hier oft eine Schwellenangst, mit einer Institution in Verbindung zu treten, die den Namen „Schule“ trägt. Gerade hier sind Kooperation und flexibles Handeln Voraussetzung für einen Zugang zu den Kindern.
Es bleiben eine Menge Probleme, die gemeinsam mit Schule und Musikschule gelöst werden müssen: der eingeengte zeitliche Bewegungsraum nach dem Schulunterricht, insbesondere in einer Ganztagsschule, Wohnverhältnisse, die das Üben auf einem Instrument erschweren, die Frage nach dem finanziellen Aufwand für Instrumentenbeschaffung und Unterrichtsgebühren.
Das verlangt nach der informierten Musikschule und der informierten Sonderschule oder Schule. Die behinderten Kinder und Jugendlichen sind Schüler einer Sonderschule oder auch Schüler in integrierten Klassen. Immer dort, wo eine Musikschule sich nicht um behinderte Schüler kümmert, haben diese Schulen kaum Kenntnisse von der Existenz und den Aufgaben einer Musikschule. Nicht zuletzt durch die Außendarstellung, die für die Musikschulen unabdingbar ist, gilt den Nichtinformierten die Musikschule als Unterrichtsstätte für „besonders Begabte“, zu denen man die betroffenen eigenen Schüler nicht zählt. Hinzu kommt der Mangel an geeigneten Fachlehrern, die immerhin davon wissen könnten, dass jedes Kind Musik machen kann, wenn es möchte.
Gründe über Gründe, die erklärlich machen, weshalb das Musikmachen mit behinderten Menschen an Musikschulen noch nicht der Regelzustand geworden ist, obwohl wir seit beinahe 20 Jahren durch das Land und die Verbände ziehen und mit vielen Beispielen zeigen können: es geht!
Wir sprechen vom „Instrumentalspiel mit Behinderten“ und vermeiden den Begriff „Unterricht“. Selbstverständlich bedarf es des Unterrichts, aber die Hervorhebung von Unterricht erinnert Schüler wie Lehrer allzu sehr an den „bedeutsamen“ Lehr- und Lernvorgang. Ziel und Methode soll das Spielen des Instrumentes mit dem Instrument sein, das dazu dient, Musik zu machen. Hierzu haben die Kinder ihr Instrument gewählt und kommen in die Musikschule, musizieren alleine, aber vorwiegend mit anderen gemeinsam.
Üben ist notwendiges Übel, um spielen zu können, wobei spielendes Üben den Spaß am Spielen nicht verhindern wird. Angesichts so mancher abgebrochenen Instrumentalausbildung muss man immer wieder fragen, was machen wir falsch, womit verderben wir Kindern und Jugendlichen den Spaß?
Instrumentalspiel bedeutet, dass von vornherein, von der ersten Stunde an musiziert wird. Die Teilnehmer an unseren Lehrgängen lernen, wie man nahezu voraussetzungslos mit Klängen und Geräuschen Musik machen kann und die Schüler auch ihr Instrument einbringen können.
Sie erfahren, wie mit einem Ton Melodien gespielt werden können, die begleitet werden. Es gibt eine Bedingung, die lautet: „Es muss Musik daraus werden.“
Der Wunsch zum Spielen eines Instrumentes ist stärker als ein Testergebnis, das eine negative Voraussage über die Instrumentenwahl gibt. Ein im Aufnahmeverfahren zur Sonderschule für Lernbehinderte oder für Geistigbehinderte festgestellter niedriger IQ-Wert sagt nichts über den Grad der musikalischen Veranlagung aus, wohl aber etwas über zu erwartende Schwierigkeiten im kognitiven Lernvorgang, bei dem man einen besonderen Weg gehen muss. Auch wir beobachten die Kinder in der Motivationsphase, führen insbesondere bei Körperbehinderten auch „Testspiele“ durch, um festzustellen, wo Probleme sich zeigen, die zu kompensieren sind, wo man pädagogisch besonders gefordert sein wird. Ein Kind, dessen dringender Wunsch es ist, Klavierspielen zu erlernen, obschon Finger einer Hand deformiert sind, wird das Klavierspielen erlernen: die Lehrkraft muss sich schon etwas einfallen lassen.
Man kann manches durch sogenannte adaptierte Instrumente kompensieren. Am bekanntesten sind Umbauten an Blechblasinstrumenten, ebenso sind Einhandflöten mit einem Klappensystem verbreitet. Elektronische Tasten- und Blasinstrumente bieten Möglichkeiten, trotz der Behinderung Musik zu machen.
Wir empfehlen, dass in der Regel die Motivationsphase in die Sonderschule oder Schule gelegt wird. Hier kann mit einem Klassenverband gearbeitet werden, ohne dass Kinder von vornherein ausgeschlossen werden. Der Sonderschullehrer wird zusätzlich Hilfestellung geben können – und müssen, da der Musikschullehrer ohne dessen Anwesenheit dort nicht unterrichten darf. Die Kinder können ohne Beeinflussung durch die Eltern ihr Instrument finden und wählen. Wir können heute, nach nunmehr 20 Jahren sagen, dass immer dann, wenn der Wunsch zum Spielen eines bestimmten Instrumentes vom Kind ausging, Spielen und Unterricht erfolgreich verliefen, Schwierigkeiten und Rückschritte, die immer wieder auftreten, leichter überwunden werden konnten.
Im Zusammenhang mit Musikschulen habe ich in diesem Bericht den Begriff „Musiktherapie“ vermieden. Musiktherapie ist eine der ältesten Therapien der Menschheit. Musik wird eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung und Veränderung zu erzielen. Musik wirkt, wenn sie vom Menschen erlebt wird, eine Wirkung im physischen und psychischen Bereich ist nachweisbar. Sie gezielt einzusetzen, um eine beabsichtigte Wirkung zu erreichen, ist Ziel einer Musiktherapie. Um das wirkungsvoll zu praktizieren, bedarf es des ausgebildeten Musiktherapeuten, der in der Lage ist, Wirkung und Auswirkung abzuschätzen.
Wenn wir mit Musik umgehen, mit unserem Personenkreis Musik machen, Musik hören oder Tanzen, zeigen sich immer Wirkungen und ereignet sich oft Therapeutisches: Die Schlagzeugerin, die beim Schlagen ihren Spasmus ihrer Hände überspielt und die nach dem Break wieder in den Spasmus zurückfällt, der Autist, der über das Instrument im Spiel den Kontakt zur Gruppe oder zum Gruppenleiter aufnimmt, die Trompeterin, die sich im Trompetenspiel von einem unsäglichen familiären Frust befreit. Alle unsere Lehrkräfte können über sichtbare Wirkungen berichten – und dennoch sind sie keine Therapeuten, die das Mittel Musik einsetzen, um eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Sie machen schlichtweg Musik in einem Umfeld, für das sie die künstlerische und nunmehr spezielle pädagogische Kompetenz haben. Wenn eine Musikschule einen ausgebildeten Musiktherapeuten einstellt, kann sie selbstverständlich Angebote in musiktherapeutischer Behandlung machen und ggf. über die Kassen abrechnen. Sie kann den Therapeuten auch als Lehrkraft für Behinderte und Nichtbehinderte einsetzen, denn in der Regel haben sie eine gute instrumentale und pädagogische Ausbildung. Dennoch bleibt die Musikschule eine musikalische Ausbildungsstätte.
Die Musikschulen profitieren von der Ausweitung ihrer Arbeit, weil ihre Lehrerinnen und Lehrer davon profitieren. Wir befragen immer wieder die bei uns ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer, ob sie einen Unterschied in ihrem Unterrichten bemerken. Die nahezu einhellige Feststellung ist, dass sie bessere Lehrer auch für ihre nichtbehinderten Schüler geworden sind. Sie haben aus Notwendigkeit gelernt, in kleinen Schritten vorzugehen, abzuwarten, anschaulich zu sein, flexibel zu reagieren auf Stimmungen, Rücksicht zu nehmen, jeden Anlass zum Musizieren zu nutzen, das Kind voll zu akzeptieren und mit ihm Spaß am Musikmachen zu haben.
Ich bin davon überzeugt, dass die Arbeit mit behinderten Menschen und mit Gruppen, die am Rande stehen, die Musikschulen verändern wird. Wir haben im Laufe der Geschichte der Musikschule in den letzten 50 Jahren gesehen, wie das Besondere das Normale verändert hat. Die Musikschulen, nach dem Kriege das Besondere, veränderten die Landschaft der Musikerziehung. Gedacht sei weiterhin an die Einrichtung und Beteiligung am Wettbewerb „Jugend musiziert“, an die Einführung der Musikalischen Früherziehung, an die Öffnung zu Jazz, Pop, Tanz, Theater. Das Besondere verdrängt nicht das Normale, sondern verändert es, so dass im Prozess der Normalisierung eine neue Form entsteht, in der das vorher Besondere einen neuen Akzent setzt.
Die Musikschulen haben die Chance, dass das Besondere ihrer Arbeit mit behinderten Menschen in das „Normale“ eindringt. Wenn behinderte Menschen selbstverständlich Schüler einer Musikschule sind, wird eine besondere Didaktik und ein neues Musikverständnis die bisherige Normalität verändern.
Erschienen in Irmgard Merkt (Hg.) (2000): Ein Lied für Christina. Mit Beiträgen von Franz Amrhein, Aaron Eckstaedt, Max Fuchs, Eva Krebber-Münch, Irmgard Merkt, Angelika Neuse-Schneider, Werner Probst, Ruth Moroder-Tischler, Björn Tischler und Fredrik Vahle. Regensburg: ConBrio-Verlag S. 41 - 50. Das Buch ist nicht mehr erhältlich.